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In memoriam

Pastor i.R. Egon August Otto Karl Meyer

Egon-Meyer

Am 5. Mai verstarb Pastor i.R. Egon Meyer im Alter von 92 Jahren in Hannover. Wir trauern um einen Geistlichen, der das kirchliche Leben in Wolfsburg wie kaum ein anderer weit über die eigenen Gemeindegrenzen geprägt hat.

Es waren andere Zeiten, als Egon Meyer seinen Pfarrdienst in der jungen Autostadt antrat. Nach ersten Dienstjahren im Landesjugendpfarramt in Hannover kam Pastor Meyer 1958 im Alter von 30 Jahren nach Wolfsburg: Zunächst versah er seinen Dienst an der Christuskirche, wurde aber bald in den neuen Stadtteil Klieversberg geschickt, um dort eine evangelisch-lutherische Kirchengemeinde aufzubauen. Die ersten Jahre fanden Gemeindeaktivitäten und Gottesdienste noch in der für ihn angemieteten Dienstwohnung statt.

Dann ergab sich eine Kooperation mit dem finnischen Stararchitekten Alvar Aalto, die das Leben Egon Meyers nachhaltig prägen sollte. Der für den Bau des Kulturzentrums in Wolfsburg tätige Künstler konnte von den Pastoren Meyer und Bammel (Christuskirche) für den Kirchenneubau auf dem Klieversberg-Südhang gewonnen werden. Im Gespräch waren damals auch eine Taufkapelle von Pablo Picasso und Kirchenfenster von Marc Chagall, aber das war dem damaligen Kirchenvorstand zu viel moderne Kunst auf einmal. So blieb es bei Kirchbau der skandinavischen Moderne, der – zusammen mit den Aalto-Bauten des Kulturzentrums in der Stadtmitte und der Stephanus-Kirche in Detmerode sowie dem von Hans Scharoun entworfenen Theater – der Stadt ihr Gepräge nicht nur als Stadt der Mobilität, sondern auch zukunftsweisender Architektur gab. Egon Meyer kommt das Verdienst zu, dies angestoßen und begleitet zu haben.

1962 wurde die Kirche eingeweiht, deren Geschicke Egon Meyer als Gemeindepastor bis zum Eintritt in den Ruhestand 1993 maßgeblich prägen sollte. Hier wurden zwei seiner drei Kinder geboren, hier wirkte auch seine Frau Anna-Maria als „Pfarrfrau“ aktiv am Gemeindeleben mit. Hier baute er eine Gemeinde auf, von der Impulse nicht nur für das kirchliche Leben in Wolfsburg, sondern in der gesamten hannoverschen Landeskirche ausgingen. Schon Anfang der 60er Jahre baute er – zunächst gegen einigen Widerstand aus dem Landeskirchenamt – ein vierjähriges Konfirmandenmodell auf. In der Jugendarbeit geprägt, war Meyer bewusst, dass Kinder und Jugendliche eine kontinuierliche Prägung und intensive Zuwendung brauchen. Thematische Wochenend- und Ferienkurse mit längeren Jugendfreizeiten zum Abschluss – zunächst in Dänemark, später in Schweden – machten den Konfirmandenunterricht zu einem für viele Jugendliche prägenden Erlebnis: Viele blieben über Jahre in der Jugendarbeit engagiert. Auch als Schulpastor war Egon Meyer bei Jugendlichen bekannt und beliebt.

Weitere Impulse gingen von Egon Meyers liturgischem Ansatz aus: Er erkannte früher als viele andere, dass die Antwort auf schwindendes liturgisches Verständnis der Gemeinde nicht in einer Reduktion des Rituellen und einer Angleichung des gottesdienstlichen Geschehens an den Alltag liegen dürfe, sondern in einer bewussten Gestaltung des Anderen, vom Alltag Unterschiedenen liegen müsse. Ihm ging es darum, die Begegnung mit Gott, mit dem „Heiligen“ spürbar zu machen, aber nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas in jedem Menschen Verborgenes, das durch die richtige Ansprache hervorgelockt und zum Leben erweckt werden kann. So war seine hochkirchliche, von gregorianischer Musik geprägte Liturgie nie abgehoben, sondern immer auf die größtmögliche Partizipation der Gemeinde angelegt. Dem Liturgen kam eher eine moderierende Funktion zu, die Gestaltung wurde auf viele Beteiligte verteilt: Für Gebete, Lesungen, Fürbitten wurden Gemeindeglieder ausgebildet und eingeteilt, oft wurden Gastprediger eingeladen. Konfirmanden halfen als Ministranten beim Abendmahl, das jeden Sonntag gefeiert wurde, und übersetzten biblische Texte mit Anspielen in ihre Sprache.

Der Gottesdienst war verstanden als die Mitte des Gemeindelebens, seine Kraftquelle und inhaltlicher Referenzpunkt. Dem Abendmahl korrespondierten die vielen „Mahle in großer Runde“, die nach dem Gottesdienst, zu Seminaren und viele Jahre als Mittagstisch „Goldener Herbst“ auch unter der Woche für Gemeindeglieder angeboten wurden. Wie die biblischen Tischgemeinschaften sollte sich im gemeinsamen Essen, im Teilen und im Gespräch christliche Gemeinschaft verwirklichen: die Gulasch-Kanone als Ausdruck gelebten Evangeliums.

Weil ein so anspruchsvolles Konzept von Gottesdienst nur aufgehen kann, wenn die Menschen es verstehen und mittragen, stellte die geistliche Bildung eine weitere feste Säule im Gemeindeleben dar. Egon Meyer rief zahlreiche Gemeindekreise ins Leben, die er aber oft recht zügig in kompetente Hände legte. Die Bandbreite war groß: Schola Cantorum, Märchenkreis, der Montagskreis für Seniorinnen, Koch- und Yoga-Gruppen. Egon Meyer brachte die Ideen ein, gab den Startschuss und entließ seine „Kinder“ dann in eine Selbständigkeit, die – wie beim Gottesdienst – auf eine intensive Beteiligung der Gemeinde setzte und ihm Raum schuf, wieder Neues zu säen.

Gemeinsam war diesen Kreisen, dass sie stets ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen zu Grunde legten: Die Seele braucht die lebendige Beziehung zu Gott, der Geist braucht intellektuelle Stärkung, der Körper Bewegung und gesunde Ernährung. Egon Meyer war ein Pfadfinder für Themen, die oft erst Jahre oder Jahrzehnte später an Popularität gewannen und zu Massenbewegungen wurden.

Immer auf der Suche nach neuen Anregungen, fand Egon Meyer eine wichtige Inspirationsquelle in der modernen Kunst. Vielleicht nahm er die Besonderheit des Aalto-Baus, der diesem Gemeindeleben seine äußere Heimat gab, zum Anlass, der Kunst des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Marc Chagall war zwar bei den Kirchenfenstern nicht zum Zuge gekommen, aber seine Graphiken gaben den Wänden in Kirche und Gemeindezentrum ihren Charakter. Seminare und Kunstreisen zu Orten, die von Chagall, Henri Matisse und anderen geprägt waren, bildeten einen weiteren festen Bestandteil des Gemeindelebens. Überhaupt Reisen: Jedes Jahr bot die Gemeinde Fahrten an – im Inland und ins Ausland, stets zu Orten mit besonderem Bezug zu Kirche und Kunst: nach Burgund, in die Bretagne, nach England, Russland, Bulgarien, Sizilien, Frankreich, Spanien, Griechenland und viele andere Länder. Jede Reise wurde akribisch mit Seminaren und Matinéen vorbereitet, sodass auch die, die nicht mitreisten, etwas von den Themen mitbekamen. Auch hier waren immer viele Menschen als Referenten eingebunden, lag die Betonung auf der Gemeinschaft – Lerngemeinschaft, Weggemeinschaft, communio in jedem Sinne.

Egon Meyer blieb „seiner“ Heilig-Geist-Gemeinde auch über den Ruhestand 1993 hinaus eng verbunden. Noch bis 2016 behielt er eine Wohnung auf dem Klieversberg, obwohl sich sein Lebensmittelpunkt mehr und mehr in seinen Heimatort Osterwald bei Hameln verlagerte. Aber solange es Menschen gab, die er mit seinen Ideen und Vorträgen und herausragenden Predigten inspirieren konnte, solange stand er auch bereit, sich ehrenamtlich weiter einzubringen.

Es ist nicht übertrieben, von diesem Dienst in und an der Heilig-Geist-Gemeinde als einem „Lebenswerk“ zu sprechen. Darum lässt es sich in diesen bloß skizzenhaften Notizen auch nur unzureichend würdigen. Vieles muss unerwähnt bleiben, anderes – etwa sein langjähriger Dienst als Stellvertretender Superintendent oder seine, bereits in den Ruhestand fallende kräftezehrende Vakanzvertretung für einen wegen Mordes verurteilten Amtsbruder – können hier nur gestreift werden.

Viele Leserinnen und Leser werden aber ihre eigenen Erinnerungen an diesen außergewöhnlichen „Hirten“ haben. Es wird noch Gelegenheit geben, solche Erinnerungen zusammenzutragen und auszutauschen. An dieser Stelle müssen wir uns mit dem Skizzenhaften begnügen, das aber – so hätte es Egon Meyer formuliert – symbolisch für menschliches Leben steht. Unser irdisches Sein ist im besten Fall ein Herantasten an das Mysterium Gottes, das sich uns erst nach dem Abschied aus dieser Welt in ganzer Fülle erschließt. Mögen die Worte des 36. Psalms für Egon Meyer Wirklichkeit werden: „Bei Dir ist die Fülle des Lebens und in Deinem Lichte sehen wir das Licht.“ Er war ein Suchender, möge er nun finden, wonach sich seine Seele immer gesehnt hat. Er war aber auch ein Leitender, ein „Mystagoge“. Wir erinnern uns dankbar der Schritte eines geistlichen Weges, auf dem er uns ein Stück begleitet und angeleitet hat.

von Dr. Patrick Roger Schnabel

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